„Ziel muss es sein, möglichst keine Infektionen mehr zu haben“

Interview mit Dr. Markus Beier, Vorsitzender des Bayerischen Hausärzteverbandes.

 
Dr. Markus Beier
Dr. Markus Beier, 
Landesvorsitzender
des Bayerischen Hausärzteverbandes

Herr Dr. Beier, nach stundenlangen Verhandlungen haben am Dienstagabend Bundeskanzlerin Angela Merkel und die Ministerpräsidenten der Bundesländer beschlossen, den Lockdown bis zum 14. Februar zu verlängern. Eine richtige Entscheidung?

Dr. Markus Beier: Aufgrund der immer noch viel zu hohen Inzidenz und der neuen Virusvariationen hat sich die pandemische Lage nicht wirklich verbessert. Die Entscheidung des Bund-Länder-Gipfels, den Lockdown zu verlängern, ist somit leider alternativlos, allerdings vermissen wir Hausärztinnen und Hausärzte eine nachhaltige und proaktive Strategie. Wir müssen das Virus bekämpfen, aber den Menschen gleichzeitig auch eine Perspektive geben. Der Satz „Wir müssen mit dem Virus leben“ ist deshalb grundverkehrt. Ziel muss es sein, möglichst keine Infektionen mehr zu haben, um Ansteckungen zu vermeiden, Menschenleben zu retten und die negativen Folgen für die Wirtschaft sowie weitere Kollateralschäden zu verhindern. Auch viele Familien leiden immer mehr. Mit wenig ambitionierten, politisch motivierten Kompromissen steht zu befürchten, dass die Bürgerinnen und Bürger noch über Monate hinweg keine echte Perspektive haben. Das bereitet mir größte Sorgen. Klare Ziele und eine authentische und verständliche regelmäßige Kommunikation von Seiten der Politik sind dringend nötig und können helfen, die Menschen in dieser schwierigen Zeit wieder umfassend mitzunehmen.

Also nicht nur Verbote und Einschränkungen?

Dr. Markus Beier: Neben dringend notwendigen Regeln brauchen wir eine positive Ansprache der Menschen durch die Politik sowie positive Ziele und Konzepte, die auch tatsächlich vor Ort ankommen und umgesetzt werden. Außerdem benötigen wir kurzfristig bessere Schutzstrategien für unsere stationären Pflegeheime. Ich verstehe deshalb überhaupt nicht, warum sich die anderen Bundesländer nicht den FFP-2 Regelungen Bayerns am Dienstagabend angeschlossen haben.

In der öffentlichen Debatte wird immer die Inzidenz herangezogen, also das Verhältnis der Erkrankten innerhalb der vergangenen sieben Tage zu 100.000 Einwohnern. Welcher Inzidenzwert sollte das Ziel sein?

Dr. Markus Beier: Die derzeitige Situation mit immer weiteren Verlängerungen des Lockdowns stellt die Gesellschaft vor eine Zerreißprobe. Wir brauchen ein klares Ziel. Und unser Ziel ist nicht eine Inzidenz von unter 100 oder 50, sondern 0. Erlauben Sie mir mal ein Beispiel, das auch die motivationspsychologische Seite in Blick nimmt: Mit welcher Anzahl an Zigaretten pro Woche schaffen Sie es, mit dem Rauchen aufzuhören? Unter 100 oder 50, oder vielleicht doch 0? Nur bei einem Ziel von 0 sind alle in der Verantwortung und wir erreichen den bestmöglichen Wert.

Ist das realistisch? Und selbst wenn es erreichbar wäre, bestünde nicht die Gefahr, dass das Virus innerhalb kürzester Zeit wieder eingeschleppt würde?

Dr. Markus Beier: Im Sommer hatten wir in Deutschland bereits eine Inzidenz von 2,5 erreicht. Wir haben dann aber nicht den politischen Mut aufgebracht, die Zahl der Ansteckungen mit einer gemeinsamen Kraftanstrengung auf null zu drücken, so wie es in anderen Ländern durchaus gelungen ist. Eine Öffnung bedarf dann eines auf Deutschland angepassten Konzepts beispielsweise von sog. „Grünen Zonen“, in der das Leben wieder normal stattfinden kann, und weiteren Maßnahmen insbesondere zum Schutz in Alten- und Pflegeheimen.

Als Hausarzt versorgen Sie viele ältere Menschen, die besonders gefährdet sind. Was sind Ihre Erfahrungen in der aktuellen Pandemie-Bekämpfung?

Dr. Markus Beier: Die bisherigen Regelungen und Verordnungen zum Schutz vulnerabler Gruppen sind leider immer noch unzureichend, und zwar aus drei Gründen.

Erstens: In der Versorgungsrealität werden Verordnungen nicht flächendeckend umgesetzt. So werden Hygienepläne in stationären Alten- und Pflege-Einrichtungen in der Regel allenfalls auf ihre Existenz und in schriftlicher Form geprüft. Hier fehlen unangekündigte Kontrollen vor Ort und vor allem eine unbürokratische Unterstützung der Einrichtungen bei der Umsetzung. Regelungen auf Papier retten keine Leben!

Zweitens: Präventive Testkonzepte werden oft nur als Angebot formuliert und nicht als Verpflichtung. Außerdem sind Frequenz und Qualität der Tests unzureichend. So bietet beispielhaft eine Antigen-Schnelltestung maximal eine relative Schutzwirkung für den aktuellen Tag, aber nicht darüber hinaus. Pflegepersonal, das sich zwei Mal in der Woche einem Antigen-Test unterzieht, kann also durchaus ein Übertragungsrisiko darstellen. Sinnvoller wären PCR-Tests alle drei bis vier Tage oder ein täglicher Antigen-Schnelltest für alle Pfleger, sonstige Mitarbeiter und Besucher.

Und drittens: Für medizinisches Personal, Reinigungskräfte und Besucher stehen FFP2-Masken nicht überall ausreichend zur Verfügung.
Der Hausärzteverband wird dies alles auch nochmal in einem Konzeptpapier zusammenstellen.

Es gibt die These, dass man nur die vulnerablen Gruppen so schützen müsste, wie Sie es fordern, und dann könnte der Rest der Gesellschaft wieder ein normales Leben führen.

Dr. Markus Beier: 22 Prozent der Bürgerinnen und Bürger in Deutschland sind über 65 Jahre alt. Insgesamt schätzt man, dass über 40 Prozent der Bevölkerung zu einer der sogenannten vulnerablen Gruppe gehören. Es ist also völlig unrealistisch, diese große Gruppe separat schützen zu können. Und im Übrigen trifft Corona nicht nur Ältere und chronisch Kranke, auch junge und bis dato gesunde Menschen können an einer Covid-19-Infektion versterben oder nachhaltige Folgeschäden davontragen. Somit ist auch die Idee, man könne die Pandemie einfach durchlaufen lassen und auf eine Herdenimmunität hoffen, unverantwortlich. Das sieht man aktuell in der brasilianischen Stadt Manaus. Obwohl hier bereits über 70 Prozent der Bevölkerung infiziert waren, tobt dort aktuell eine 2. Welle, wo die Krankenhäuser landesweit um Sauerstoff betteln müssen.

In der vergangenen Woche haben Sie sich sehr kritisch über den Vorstandsvorsitzenden der Kassenärztlichen Bundesvereinigung, Dr. Andreas Gassen, geäußert, weil er in einem Zeitungsinterview behauptet hatte, der Lockdown habe nichts gebracht.

Dr. Markus Beier: Aufgrund seiner Position als KBV-Chef werden Äußerungen von Dr. Gassen in der Öffentlichkeit als Meinung der deutschen Ärzteschaft wahrgenommen. Wir mussten deutlich machen, dass Dr. Gassen nicht für uns Hausärztinnen und Hausärzte in Bayern spricht. Der KBV-Chef hat eine Einzelmeinung vertreten, die nicht mit uns abgesprochen war. Wir halten es in der derzeitigen Lage nicht für zielführend, in der Bevölkerung Zweifel zu streuen. Wir Hausärzte erleben Corona täglich in unseren Praxen. Alle Arten von Verläufen, von nur Kopfschmerzen bis zum täglichen und plötzlichen Sterben in den Heimen. Wir betreuen die LongCoVid-Patienten, die aus ihrem aktiven Leben gerissen werden, und die Familien und Einsamen, denen die Perspektive und der Kontakt fehlen. Diese sehr bedrängende Situation kann so nicht weitergehen und braucht eine Perspektive jenseits der schädlichen Polarisierung zwischen „alles zu hart“ und „alles zu wenig“.

Worin wir die KBV, die KVB und natürlich besonders auch den Deutschen Hausärzteverband ganz explizit unterstützen, sind die Bemühungen, die Impfungen nun auch sobald als möglich in unsere Praxen zu verlegen. Über die dazu aus Sicht der Hausärztinnen und Hausärzte dringend nötigen Rahmenbedingungen wie Vergütung, Bürokratiearmut und Informationsverfahren der Patientinnen und Patienten stehen wir in einem engen Austausch.

 

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