Klartext Hausarztmedizin – der Politik-Talk mit Prof. Dr. Andrew Ullmann: „Überzeugen statt Impfpflicht“

 

Zitrone mit bvkj

Wo soll die gesundheitspolitische Reise nach der Bundestagswahl im Herbst hingehen? Antworten aus Sicht bayerischer Kandidatinnen und Kandidaten für die anstehende Bundestagswahl liefert die Veranstaltungsreihe „Klartext Hausarztmedizin – der Politik-Talk unter dem Motto "Hausärztinnen und Hausärzte – unverzichtbar, nicht nur in Krisenzeiten". Den Anfang machte am Mittwoch vergangener Woche (14.07.2021) der FDP-Bundestagsabgeordnete Prof. Dr. Andrew Ullmann, der für die kommende Legislaturperiode erneut kandidiert.

Großen Raum im Gespräch zwischen ihm und Dr. Markus Beier, Vorsitzender des Bayerischen Hausärzteverbandes, nahm erwartungsgemäß das Thema Corona ein. Moderator Torsten Ficke sprach die tagesaktuellen Impfzahlen von 58,6 Prozent Erstimpfungen 42,7 % vollständig Geimpften an und bat um Einordnung. Er gehe davon aus, dass sich die bereits einmal Geimpften ihre Zweitimpfung abholen werden, erklärte Prof. Ullmann. Man müsse aber eine Durchimpfungsrate von mindestens 75 Prozent erreichen, um sicherzustellen, dass es weder im stationären noch im ambulanten Bereich zu einer Überlastung komme. „Deshalb plädiere ich dafür, dass auch Kinder ab 12 Jahren geimpft werden“, so Prof. Ullmann. Er hoffe, dass sich die STIKO die Zahlen dazu nochmal anschaue.

Dr. Beier: Gesondert abrechenbare Impfberatung und Einzelgebinde beim Corona-Impfstoff nötig

Dr. Beier verwies darauf, dass in Bayerns Praxen seit April rund 5 Millionen Corona-Impfungen verabreicht wurden – „das war eine echte Kraftanstrengung,“ betonte er, stimmte aber Prof. Ullmann zu: „Wir müssen mehr Menschen zum Impfen motivieren“. Gerade deshalb sei es wichtig, die Impfleistung selbst und die Beratung dazu nebeneinander abrechenbar zu machen. „Das wäre ein kurzer Federstrich in Berlin, und dann würde der Aufwand auch besser honoriert werden“, so Dr. Beier.

Eine weitere Maßnahme, um in den Praxen besser auf die nachlassende Impfbereitschaft zu reagieren zu können, sieht Dr. Beier in Einzelgebinden von Corona-Impfstoffen. „Dann könnten wir einzelne Patienten, die in die Praxis kommen und sich impfen lassen möchten, auch sofort impfen und muss nicht erst sechs bis sieben Impfwillige zusammenbekommen“, erläuterte Dr. Beier.

Impfpflicht keine Lösung

Mit Prof. Ullmann war sich Dr. Beier einig, dass eine Impfpflicht keine geeignete Maßnahme zum Erreichen einer höheren Impfquote darstellt. „Wir setzen mehr auf Aufklärung und Motivation bei dem Einzelnen, dass man der Pandemie gemeinsam begegnen kann", erklärte Prof. Ullmann für seine Partei. „Bis zu 20 Prozent der Menschen sind unsicher, ob sie sich impfen lassen sollen. Die bekommen wir nicht durch eine Impfpflicht, sondern verjagen sie eher“, argumentierte er, appellierte aber auch an die Vorbildfunktion, in der er Angehörige medizinischer Berufe sieht, und wies auf besondere Arbeitssituationen hin: „Mitarbeiter, die bei immunkompromittierten Patienten im Krankenhaus arbeiten, sind entweder geimpft oder sie müssen woanders arbeiten.“ Das habe mit einer Impfpflicht nichts zu tun, hier gehe es um den Schutz der Patienten.
Dr. Beier verwies auf Erfahrungen aus Frankreich, wo eine partielle Impfpflicht nicht zu höheren Impfraten geführt habe. Er stimmte mit Prof. Ullmann überein, dass es schützenswerte Bereiche gibt, wo nur Geimpfte arbeiten dürfen – „man kann an den Mortalitätszahlen ablesen, in welchen Bereichen das der Fall ist.“

Kinder ab 12 Jahren impfen

Einer Meinung waren Dr. Beier und Prof. Ullmann auch mit Blick auf die Impfung von Kindern ab 12 Jahren, die von der STIKO aktuell nur in Ausnahmefällen empfohlen wird. „Es ist nicht Aufgabe der Politik, Entscheidungen der STIKO in Frage zu stellen“, stellte Prof. Ullmann klar. Aber als chemischer Wissenschaftler, Politiker, Arzt und Infektiologe, der selbst Leitlinien geschrieben habe und wisse, wie Empfehlungen zustande kommen, erlaube er sich eine Meinung: „Wäre ich Mitglied der STIKO, würde ich mich ganz klar für eine allgemeine Impfempfehlung für Kinder ab 12 Jahren aussprechen“. Zwar sei die Folge einer Infektion bei Kindern und Jugendlichen nicht unbedingt die Aufnahme in die Intensivstation oder gar ein Todesfall, aber von Long-COVID sei eine sehr hohe Zahl von Infizierten dieser Altersgruppe betroffen. „Hätte ich Kinder im entsprechenden Alter, wären sie längst geimpft.“
„Auch wenn ich kein Infektiologe bin, komme ich nach Durchsicht vieler Daten zum selben Ergebnis wie Prof. Ullmann“, stimmte Dr. Beier dem FDP-Politiker zu.

Prof. Ullmann: „STIKO-Empfehlung kein Gesetz“

Prof. Ullmann wies darauf hin, dass die STIKO-Empfehlung kein Gesetz sei und der Corona-Impfstoff von Biontech/Pfizer für Kinder an 12 Jahre uneingeschränkt zugelassen sei. „Das heißt, jeder kann in seinem freien Beruf als niedergelassener Kollege/niedergelassene Kollegin, oder als Klinikarzt/Klinikärztin mit den Eltern zusammen frei entscheiden, ob ein Kind ab 12 Jahren geimpft wird oder nicht. Da brauch man nicht befürchten, dass irgendwelche haftungsrelevanten Probleme entstehen“, so Prof. Ullmann. „Man kann natürlich immer haftungsrechtlich in Frage gestellt werden“, räumte er ein, „man muss es gut begründen, und das ist sicherlich machbar.“

Dr. Beier zu Corona-Maßnahmen: „Zuviel über einen Kamm geschoren“

Mit Blick auf die Maßnahmen der Bundesregierung zur Eindämmung der Corona-Pandemie maß Dr. Beier dem Inzidenzwert als Aussagewert für das Infektionsgeschehen in der Vorwoche weiterhin Bedeutung zu, warnte aber davor, Maßnahmen erst an Krankenhausbelegungen zu knüpfen, „denn da ist man viel zu spät“. Was man aber mit einpreisen müsse, seien bestimmte Dynamiken. Beispielsweise habe die Politik zu wenig in Betracht gezogen, wie exponentiell die Entwicklung des Infektionsgeschehens sei und regionale Aspekte außen vorgelassen, „da wurde zu viel über einen Kamm geschoren“.

Defizite sieht er auch bei der Nachverfolgung und Isolierung Infizierter. „Wo wir richtig schlecht sind, das ist der sogenannte TTI-Prozess – Testen, Tracing und Isolieren. Wir haben immer noch Fälle in der Praxis von positiv getesteten Patienten, zu denen das Gesundheitsamt erst nach vier bis fünf Tagen Kontakt aufnimmt.“ Eine „Vollkatastrophe“, wenn es sich um einen Superspreader handele, der dann weiterhin in der Öffentlichkeit unterwegs ist. Viele unliebsamen Corona-Maßnahmen, ist Dr. Beier überzeugt, wären nicht notwendig, wenn bei positiven Tests schneller reagiert und auch rückwärts isoliert werden würde.

Kaum Kontrolle von Quarantäneanordnungen

Prof. Ullmann bestätigte die Defizite hier und berichtete, dass er Ende letzten Jahres in seiner Funktion als Stadtratsmitglied in Würzburg nachgefragt habe, wie viele Quarantänemaßnahmen dort kontrolliert worden seien. Das Ergebnis: „Das war sehr traurig, das war unter einem Prozent, und davon haben sich nur ein Drittel an die Maßnahmen gehalten. Da bin ich nicht überrascht, dass solche Infektionen sich ausbreiten. “ Das sei in anderen Bundesländern nicht anders gewesen, hätten ihm Kollegen bestätigt. „Als Hausaufgabe für die nächste Legislaturperiode müssen wir die Stärkung des öffentlichen Gesundheitswesens mitnehmen“, folgerte Prof. Ullmann.
Auch das RKI könnte besser arbeiten mit einer besseren personellen Ausstattung und langfristigeren Verträgen, ist er überzeugt. „Da bedarf es eines Umdenkens in der Politik. Da fühle ich mich berufen, das ist eine wichtige Aufgabe, um auf die nächste Pandemie vorbereitet zu sein“.

Gefahr für die Freiberuflichkeit

Im Verlauf der Diskussion lenkte Moderator Fricke schließlich das Gespräch auch auf das Wahlprogramm der FDP mit dem Titel „Nie gab es mehr zu tun“. „90 Seiten Wahlprogramm, vier Seiten zum Thema Gesundheit, und ein Wort kommt nicht vor – der Hausarzt. Warum? Weil es beim Hausarzt nichts zu tun gibt, weil bei der Allgemeinmedizin alles rund läuft?“, wollte er von Prof. Ullmann wissen.

Der FDP-Politiker erklärte, man habe nicht eine spezielle Berufsgruppe herauszustellen wollen, sondern die Freiberuflichkeit der Ärzteschaft als etwas Besonderes in Deutschland. „Und diese ist gefährdet von Parteien, die eher rot gefärbt sind, wo eine staatliche Lenkung der Medizin gewünscht ist“, ging er auf ein Wahlkampfthema seiner Partei ein. „Hier müssen wir klar Farbe bekennen als Partei, dass die Freiberuflichkeit die Qualität der Versorgung in Deutschland auch gewährleistet. Wenn wir das aufgeben, wäre das sehr traurig für unser Land.“

Aus hausärztlicher Sicht: „MVZ begrenzen und Hausarztzentrierte Versorgung ausbauen“

„Die Freiberuflichkeit könnte aber auch bedroht werden von einem freien Markt“, warf Moderator Fricke ein und spielte auf Medizinische Versorgungszentren in der Hand kapitalgesteuerter Unternehmen an. „Auch im hausärztlichen Bereich findet immer mehr MVZ-Medizin statt, wobei ein von freiberuflichen Kolleginnen und Kollegen getragenes MVZ sicherlich nicht das Problem ist “, berichtete Dr. Beier über das Ergebnis einer gemeinsamen Analyse mit der KVB. Es gebe aber mittlerweile auch Private Equity-Fonds als Träger radiologischer Praxen und augenärztlicher Praxen, die in einzelnen Regionen, gerade im nordbayerischen Raum, schon systemrelevante Versorgungrade erreicht haben. „Von Freiberuflichkeit ist da keine Rede mehr, da zählt die Rendite“, so Dr. Beiers Einschätzung. „Für die hausärztliche Freiberuflichkeit ist ganz wichtig, dass wir die hausarztzentrierte Versorgung nach Paragraf 73b SGB V erhalten“, betonte er. „MVZ begrenzen und Hausarztzentrierte Versorgung ausbauen, das sind so die zwei Säulen, die für uns aus hausärztlicher Sicht wichtig sind.“

Dr. Beier: „Jede Kasse muss weiterhin HZV anbieten“

Dr. Beier verwies auch auf die strukturellen Vorteile für die Patientinnen und Patienten hin, die von einigen Krankenkassen durchaus gesehen werden. So habe die Siemens BKK erst kürzlich rund 12.000 Versicherte angeschrieben und für die HZV geworben, da die Daten gezeigt hätten, dass chronische Erkrankungen und ambulant-sensitive Krankenhausfälle in der HZV bei einer langjährigen Arzt-Patienten-Bindung rückläufig seien. „Wir sind schon für ein freiwilliges Primärarztsystem aus Sicht des Patienten. Denn nicht jeder Patient ist für die HZV geeignet, aber jede Kasse muss die HZV anbieten. Das ist uns schon wichtig“, betonte er.

Bei der HZV gehe es auch um Machtverhältnisse, führte Dr. Beier einen weiteren Aspekt ins Feld. „Wir haben in der KBV, die unsere Gebührenordnung macht, nie eine Möglichkeit, einen Fuß auf den Boden zu bekommen. Viele der Regelungen, die jetzt da gemacht werden, gehen einfach an den hausärztlichen Bedürfnissen vorbei“, verdeutlichte er. Hier biete die HZV eine echte Chance – auch mit Blick auf den hausärztlichen Nachwuchs.

Prof. Ullmann: „Was ich gut finde, ist der Primärarzt, wenn es funktioniert“

Prof. Ullmann äußerte sich zur HZV zurückhaltend. „Was ich gut finde, ist der Primärarzt, wenn es funktioniert“. Und hier seien die Daten aus Baden-Württemberg positiv. Die Regelung, dass Kassen eine hausarztzentrierte Versorgung anbieten müssen, werde er persönlich nicht schleifen. „Aber das ist keine Beschlusslage in der Partei“, schränkte er ein.

Beim Stichwort Digitalisierung waren sich Prof. Ullmann und Dr. Beier einig, dass dieses Potenzial für eine Entlastung der Ärztinnen und Ärzte gerade mit Blick auf die Bürokratie bietet – im Krankenhaus wie in der Praxis. Dr. Beier gab jedoch zu bedenken, dass die Einführungsphase immer mit zusätzlichem Aufwand verbunden ist. Er forderte daher mehr Einbindung der Hausärzteschaft ein, denn: „Die Einführung muss umsetzbar sein.“

Drei Wünsche an die Politik

Gegen Ende der Diskussionsrunde formulierte Dr. Beier drei Wünsche an die Politik:

  • die zügige Verabschiedung der neuen ärztlichen Approbationsordnung gemäß Masterplan 2020 und damit die Ambulantisierung der Weiterbildung,
  • die Weiterentwicklung der HZV und
  • die Eindämmung der MVZ-Strukturen, sodass die Freiberuflichkeit dadurch nicht bedroht wird.

Prof. Ullmann reagierte mit einem „von mir bekommen Sie fast drei Ja’s“: Mit dem freiberuflichen Primärarztsystem könne er sich anfreunden, und Private Equities dürften aus seiner Sicht aus Wettbewerbsgründen zwar einen kleinen Teil der Versorgung übernehmen, aber es müsse klar geregelt sein, dass sie von Ärztinnen und Ärzten geleitet sind, die keinen ökonomischen Überzwängen ausgesetzt sein dürfen.
Die Approbationsordnung sei auf dem Weg, hier störe er sich aber daran, dass in einer früheren Version die Homöopathie enthalten war, die seiner Ansicht nach „dort nicht hingehört“.

Wer wird der nächste Bundesgesundheitsminister?

… wollte Moderator Torsten Fricke zum Abschluss von Dr. Beier und Prof. Ullmann wissen.

„Wer, ist fast irrelevant, wichtig ist, dass die Aufgaben, die gestellt sind, endlich gelöst werden“, lautete die diplomatische Antwort von Prof. Ullmann – „und nicht mit Schnellschussgesetzgebungen“, konnte sich der FDP-Politiker dann einen Seitenhieb auf den amtierenden Bundesgesundheitsminister nicht verkneifen. Jens Spahn habe zwar alle Themen richtig benannt, bei all der Geschwindigkeit, mit der er Gesetze eingebracht habe, aber kein einziges gelöst.
Und Dr. Beier hielt es mit dem Ausschlussverfahren: „Bei allem, was wir so hören, halte ich es für unwahrscheinlich, dass es wieder Jens Spahn wird, sonst ist alles möglich.“

 

 

 

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