Kopfschmerzexperte Dr. Thomas Reiter: "Hausärzte sind für uns die wichtigsten Kooperationspartner"

Dr. Holger Nyncke
 Dr. med. Thomas Reiter

Hausärztinnen und Hausärzte wünschen sich mehr Expertise in Sachen Kopfschmerzen. Deshalb beinhaltet unser SHFK-Thementag „Kopf“ neben den Themenblöcken "Update Neurologie" und "Update Psychiatrie" auch ein "Update Schmerztherapie". Als Referenten konnten wir Dr. med. Thomas Reiter gewinnen, Oberarzt Schmerzmedizin am Benedictus Krankenhaus in Feldafing und zertifizierter Kopf- und Gesichtsschmerzexperte der Deutschen Migräne- und Kopfschmerzgesellschaft (DMKG). Im Interview berichtet von seinen Erfahrungen und unterstreicht die Rolle der Behandlung im hausärztlichen Bereich.

Mit welchen besonderen Herausforderungen ist der Beratungsanlass Kopfschmerzen verbunden?

Dr. Thomas Reiter: Kopfschmerzen haben in der Medizin häufig einen untergeordneten Stellenwert und werden daher zunächst meist in Eigenregie behandelt. Das Selbstmanagement klappt sehr oft sogar recht gut, bis es durch weitere Faktoren wie etwa Belastungssituationen, andere somatische oder auch psychische Erkrankungen zu einer Dekompensation kommt und die Schmerzen chronifizieren. Dann ist der Alltag zunehmend eingeschränkt und der Aufwand der Behandlung deutlich höher, als wenn gleich zu Beginn Hilfe und Beratung in Anspruch genommen wird.

Zu welchen Problemen kann diese führen?

Dr. Reiter: Wenn sich die Patienten selbst therapieren, kann es aufgrund von einem Medikamentenübergebrauch zu einer Verschlechterung der Schmerzsymptomatik kommen. Daneben gibt es auch Red Flags, also Symptomkonstellationen, die eine kritische zugrundeliegende Erkrankung andeuten. In diesen Fällen ist unmittelbares Handeln erforderlich. Der Beratungsanlass Kopfschmerz erscheint zunächst sehr komplex, ist aber mit einer strukturierten Anamnese und einfachen Untersuchung häufig gut einzugrenzen und auch therapeutisch anzugehen.

Wo lauern Fallen für Fehldiagnosen und wie lassen diese sich vermeiden?

Dr. Reiter: Die problematischste Fehldiagnose wäre meiner Meinung nach, es bei der Diagnose „Kopfschmerz“ zu belassen. Nach der aktuellen ICHD-3-Klassifikation der International Headache Society gibt es über 300 Arten von Kopfschmerzen. All diese zu kennen ist tatsächlich eine Herausforderung, aber gebraucht werden hiervon im Alltag nur wenige. Zumindest die Unterteilung in primäre und sekundäre Kopfschmerzen und dann unter den primären Kopfschmerzen die häufigsten Arten (Migräne und Kopfschmerz vom Spannungstyp) zu identifizieren und unterscheiden zu können, ist für jede Ärztin und jeden Arzt wichtig. Aus der Unterscheidung ergeben sich dann nämlich auch die Behandlungsoptionen. Leider erhalten jedoch zu viele Patienten keinerlei evidenzbasierte Therapie, was in meinen Augen zu weiteren Probleme führt.

Auf welche Schwierigkeiten stoßen Hausärztinnen und Hausärzte bei der Diagnose und Therapie von Migräne?

Dr. Reiter: Meist sieht man den Patienten nicht in der akuten Attacke und auch die Erinnerung von Patienten an Symptome und Maßnahmen ist häufig nur bruchstückhaft und kann in die Irre führen. Hier helfen Kopfschmerzanamnesebögen und Tagebücher, um die Symptome klar einer Kopfschmerzart zuordnen zu können. Die Behandlung erscheint oft komplex, vor allem, weil die Trennung zwischen Akuttherapie und Prophylaxe auch nicht immer klar ist. Und die Anbindung an spezialisierte Praxen oder Zentren ist auch schwierig, da es zu wenige hiervon gibt. Nach einer Umfrage der Deutschen Migräne- und Kopfschmerzgesellschaft vom Februar 2022 sind die Top-3-Schwierigkeiten eine lange Wartezeit auf einen Termin in einer Kopfschmerzpraxis, unrealistische Erwartungen der Patientinnen und Patienten sowie eine unzureichende Kostenerstattung der Kopfschmerztherapien.

Wie erfolgversprechend sind multimodale Therapieangebote? Welche Rolle spielen dabei Hausärztinnen und Hausärzte?

Dr. Reiter: Multimodale Ansätze sind den unimodalen Therapien bei chronischen Erkrankungen immer überlegen, da hierbei der gesamte Mensch mit möglichst all seinen bio-psycho-sozialen Aspekten im Fokus steht. Daher sollte bei schwerwiegenden Fällen immer an eine multimodale Therapie gedacht werden. Leider sind die Plätze hierfür eher rar gesät und die Wartezeiten auch nicht unerheblich. Und es ist auch nicht überall, wo multimodal draufsteht, multimodal drin. Spannend ist eine Arbeit von Prof. Dr. Dominik Irnich von der Klinik der Universität in München (LMU), der zeigen konnte, dass eine multimodale Behandlung eine wirksame und anhaltende Schmerzreduktion von über zwei Jahren erzielen kann.
Hausärzte sind für uns die wichtigsten Kooperationspartner. Nur mit ihnen kann eine gute ambulant-stationäre Verzahnung gelingen. Wir freuen uns auch immer über direkte Gesprächsanfragen, um spezifische Fragen vielleicht auch vorab klären zu können, also zum Beispiel, ob noch zusätzliche Diagnostik nötig ist oder ob andere Maßnahmen wie etwa Physiotherapie oder Psychotherapie empfehlenswert sind.

Wie effektiv sind Cannabinoide bei der Behandlung chronischer Schmerzen?

Leider wurde diese Frage von den Gremien nicht beantwortet, die die Verordnung von Cannabis ermöglicht haben. Aus eigener Erfahrung mit einem bereits selektierten Patientengut liegt eine positive Wirkung bei etwa jedem Zehnten vor. Hierbei handelt es sich aber ausschließlich um Patienten mit chronischen neuropathischen Schmerzen, bei denen alle Standardtherapien wirkungslos waren. Aus meiner Sicht sind die Daten zu Cannabinoiden daher eher enttäuschend. Für eine Zulassung als Arzneimittel reicht es in meinen Augen noch lange nicht. Die gibt es nämlich immer noch nicht. Bei Kopfschmerzen gibt es sogar keinerlei Evidenz für den Einsatz, ausschliesslich Einzelfallberichte oder „Studien“ mit geringen Fallzahlen und einer schlechten Datenlage.

Nichtsdestotrotz habe ich aber auch schon sehr erfreuliche Therapieerfolge mit Cannabinoiden erlebt und die Forschung macht auch Fortschritte, so dass wir hier hoffentlich bald gezielter therapieren können. Bis dahin ist aus meiner Sicht aber ein restriktiver Umgang mit Cannabinoiden sinnvoll. Nicht jeder chronische Schmerz qualifiziert zur Behandlung mit dieser Substanzklasse.

Thementag Kopf mit Update Schmerztherapie

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