2. Festival der Allgemeinmedizin: Aufgeräumt mit Vorurteilen
Über 200 Teilnehmerinnen und Teilnehmer des 2. Festivals der Allgemeinmedizin konnten am 16.11. 2022 online verfolgen, wie Kolleginnen und Kollegen aus der Praxis nicht nur mit vielen Vorurteilen gegenüber der Allgemeinmedizin aufräumten, sondern auch eine ordentliche Portion Begeisterung für ihre Fach versprühten.
Direkt nach der Begrüßung der Teilnehmenden durch Prof. Dr. Marco Roos, Facharzt für Allgemeinmedizin und Inhaber des Lehrstuhls für Allgemeinmedizin an der Universität Augsburg, widerlegten Anja Thiemann und Ruben Bernau gleich das erste Vorurteil. Dass Hausarztmedizin alles andere als langweilig ist, bewiesen die beiden schon mit einem kleinen Einblick in ihre jeweiligen Sprechstunden. Bei der Vielzahl unterschiedlichster Beratungsanlässe allein an einem Arbeitstag wurde schnell auch dem letzten Teilnehmenden klar, dass Hausärztinnen und Hausärzte echte Allrounder sind. Vor allem dann, wenn erst ein Blick hinter die geschilderten Symptome zur Diagnose oder zur richtigen Therapie führt. Es geht eben manchmal nicht nur um die OP-Nachsorge einer Patientin, auch ihr Alkoholproblem will bedacht und begleitet werden. Ein weiteres Beispiel aus der Praxis: Erbrechen und Kopfschmerz kann in manchem Fall auch ein Zeichen der Überlastung im Beruf sein, gibt Ruben Bernau an einem Beispiel zu bedenken. Das weiß aber oft nur der Hausarzt, der seine Patientinnen und Patienten über viele Jahre begleitet und familiäre wie berufliche Umstände kennt und in den richtigen Zusammenhang mit geschilderten Symptomen bringen kann.
Mit Absprachen ist vieles möglich
Der Mythos, Hausärzte seien unflexibel, konnte vor allem mit den Berichten aus dem Alltag von Dr. Jana Husemann, Hausärztin in einer Teampraxis in Hamburg und Dr. Simon Schwill, angestellter Hausarzt in Mannheim, entkräftet werden. Hier wie dort gelingt die Balance zwischen ärztlicher Tätigkeit, Familie und anderen Interessen gut. Letztlich, das machten beide deutlich, ist alles eine Frage der Organisation und vor allem auch der Absprachen im Team. Funktionieren die, ist mangelnde Flexibilität in der Lebensgestaltung kein Thema mehr.
Karriere und Wissenschaft in der Allgemeinmedizin unmöglich?
Medizinstudierende befürchten oft, die Tätigkeit in der Allgemeinmedizin böte mangelnde Chancen auf eine Karriere oder eine Tätigkeit in der Forschung. Diese Skeptiker sollten zuhören, wenn Prof. Dr. Annika Viniol, Dr. Sandra Blumenthal oder Dr. Jana Husemann von ihrer Arbeit erzählen.
„Karriere bedeutet für mich, die Dinge verwirklichen zu können, die mir wichtig sind“, fasst Dr. Sandra Blumenthal, Fachärztin für Allgemeinmedizin in Berlin, ihre Erfahrungen zusammen und zeigt den Teilnehmenden mit ihrer Geschichte deutlich, dass ihr das gelungen ist. Es war ein Weg mit vielen Stationen und Arbeit in unterschiedlichsten medizinischen Fachgebieten, bis sie in der Allgemeinmedizin angekommen ist. Neben ihrer Tätigkeit als Hausärztin arbeitet sie heute auch an der Berliner Charité und koordiniert das Seminarprogramm am Kompetenzzentrum Weiterbildung.
Auch bei Annika Viniol war nicht von Beginn an klar, dass ihr Weg sie in die Allgemeinmedizin führt, manchmal sind es Zufälle oder die richtigen Mentoren, die den entscheidenden Anstoß geben. Heute lehrt sie selbst an der Universität Marburg, arbeitet einen Tag in der Woche als Hausärztin und lebt die gelungene Verbindung von Wissenschaft und Hausarzttätigkeit. Hausärztin, Berufspolitikerin, Podcasterin („Studienlage“), Mutter und demnächst gemeinsam mit Blumenthal und Roos noch Herausgeberin der „Zeitschrift für Allgemeinmedizin“: Auch Dr. Jana Husemann ist ein Beispiel dafür, dass sich Allgemeinmedizin, vielfältige Interessen, Familie, Karriere und Wissenschaft keinesfalls ausschließen. Unmöglich scheint, betrachtet man die Beispiele aller Rednerinnen und Redner dieses Abends, in und mit der Allgemeinmedizin jedenfalls nichts.
Ausgedient? Von wegen!
Der Mythos „Hausarztmedizin hat ausgedient“ führt bei allen Referenten höchstens zu einem müden Lächeln, Gegenargumente gibt es einfach zu viele. Als wären die bereits gehörten Beispiele nicht genug, betont auch Professor Marco Roos noch einmal die Vielfalt des Hausarztberufes. Nur selten kämen Patienten nur mit einem Problem in die hausärztliche Praxis, es gelte dann zu sortieren, Diagnosen auszuschließen und in 80 Prozent aller Beratungsanlässe das Problem des Patienten direkt in der Hausarztpraxis zu lösen, fasst er zusammen. Das alleine sei Beweis genug, wie wichtig Hausärztinnen und Hausärzte im deutschen Gesundheitssystem seien.
Aber auch bei Themen wie beispielsweise der planetaren Gesundheit sieht er Hausärztinnen und Hausärzte weit vorne. Für Patienten ist die Hausarztpraxis der erste Ort, wenn es um ihre Gesundheit geht, hier stellen sie ihre Fragen und teilen ihre Sorgen. Die Klimakrise und ihre Auswirkungen haben bereits jetzt großen Einfluss auf die psychische und physische Gesundheit der Menschen, neue Krankheitsbilder kommen hinzu. Wo, wenn nicht bei der Hausärztin oder dem Hausarzt des Vertrauens finden Betroffene Hilfe? Mitnichten habe die Hausarztmedizin ausgedient, im Gegenteil, da sind sich Marco Roos und Simon Schwill sicher. Der Begriff „Hochkonjunktur“ treffe es wohl besser. Ohne die primärärztliche Steuerungs- und Filterfunktion wäre das Gesundheitssystem in der Zukunft nicht überlebensfähig, so ihre Überzeugung. „Wir Allgemeinmediziner verhindern doch, dass unsere Patienten mit ihren Beschwerden im Regen stehen“, so Schwill.
Wer nach den anschließenden Informationen zum Weg in die Allgemeinmedizin und über Hilfs- und Informationsangebote noch Fragen hatte, konnte diese in einem kleineren geschützten Rahmen in anschließenden Breakout-Sessions loswerden. Alle Referentinnen und Referenten standen dort Rede und Antwort.
Das (virtuelle) Festival der Allgemeinmedizin fand in diesem Jahr bereits zum zweiten, aber sicher nicht zum letzten Mal statt.