Primärarztsystem nur über Hausarztzentrierte Versorgung
„Zu einer möglichst zielgerichteten Versorgung der Patientinnen und Patienten und für eine schnellere Terminvergabe setzen wir auf ein verbindliches Primärarztsystem bei freier Arztwahl durch Haus- und Kinderärzte in der Hausarztzentrierten Versorgung und im Kollektivvertrag“ – so steht es im Koalitionsvertrag der neuen Bundesregierung. Das Vorhaben sorgt seit Wochen für Debatten und war auch ein Schwerpunktthema der Podiumsdiskussion in der Mitgliederversammlung am 32. Bayerischen Hausärztetag in Erlangen.
Dort zweifelte niemand an der Notwendigkeit einer besseren Patientensteuerung durch ein Primärarztsystem. „An Erkenntnissen fehlts uns ja nicht“, sagte die SPD-Politikerin Martina Stamm-Fibich, von 2013 bis 2025 Mitglied des Deutschen Bundestages und ehemalige Vorsitzende des Petitionsausschusses. Sie rechne mit Widerständen, sei aber „felsenfest überzeugt, dass es ein Baustein zur Lösung sein kann, wie wir Versorgung verbessern“.
„Hausarztzentrierten Vertrag nicht zur Disposition stellen“
Für den Fraktionsvorsitzenden der CSU im Bayerischen Landtag und ehemaligen Bayerischen Gesundheits- und Pflegeminister Klaus Holetschek liegt der Ball jetzt im Feld der Hausärztinnen und Hausärzte. „Ich glaube, dass wir den Hausarztzentrierten Vertrag nicht zur Disposition stellen dürfen“, stellte er klar, zeigte sich aber verunsichert durch die verhaltene Reaktion des Bayerischen Hausärzteverbands auf die Zielvorgabe Primärarztsystem im Koalitionsvertrag. „Der Primärarzt – ist das nicht, was wir eigentlich wollten?“, fragte er. Und dann lese er in einer Pressemitteilung des Landesvorsitzenden Dr. Wolfgang Ritter, man müsse jetzt aufpassen, wie das ausgestaltet werde. „Jetzt hat man beide Wege aufgemacht – Kollektivvertrag und HZV-Vertrag, und jetzt muss man gemeinsam durch diese Tür gehen“, so Holetschek. „Bitte lasst uns nicht dieses Thema wieder kaputt reden“, appellierte er.
„Effekt im Kollektivsystem nicht so groß wie wir uns das wünschen“
Die von der Politik geforderte Patientensteuerung durch ein Primärarztsystem sei mit der HZV, dem freiwilligen hausärztlichen Primärsystem, bereits in der Versorgung etabliert, entgegnete Dr. Ritter. Und zwar über einem Selektivvertrag, dem 73b SGB V. „Wenn dieses System in die Regelversorgung übergeht, ist der 73b tot. Dann fallen wir auf die Körperschaften zurück, wo es Mehrheitsverhältnisse gibt und für die hausärztliche Versorgung seit 30 Jahren nichts getan wurde“, erläuterte er die Bedenken der Hausärzteschaft. „Die Mehrheit der Gebietsärzte will nicht, dass der Hausarzt im Zentrum der Versorgung steht“, stellte Dr. Ritter fest. Diese arbeiteten schon jetzt an Ausnahmen, indem Diagnosen herausgegriffen würden, bei denen Betroffene dann vom Gebietsfacharzt gesteuert werden könnten. Nicht der ganzheitliche Mensch mit all seinen Erkrankungen werde da gesteuert, sondern nur die Behandlung einer bestimmten chronischen Erkrankung. „Das heißt, sie bauen ein System, das den eigentlichen Kern der Primary Care wieder verwässert. Deswegen wird der Effekt im Kollektivsystem nicht so groß wie wir uns das wünschen“, warnte Dr. Ritter. „Deshalb nochmal unser Angebot: Wir haben die Hausarztzentrierte Versorgung, die wirklich ein Primärarztsystem ist, und die müssen wir ausbauen.“
„Wir müssen die Rolle der Versicherungen mitdenken“
Rund 10 Millionen gesetzlich Versicherte nehmen aktuell bundesweit an der Hausarztzentrierten Versorgung teil. „Das ist ein toller Erfolg“, befand der Co-Bundesvorsitzende des Hausärztinnen- und Hausärzteverbandes Dr. Markus Beier, gab sich aber in der Diskussionsrunde auch durchaus selbstkritisch: „Wir könnten da schon weiter sein.“ Man habe bei der Frage, wie die HZV gestärkt werden kann, immer die Bonifizierung innerhalb der HZV für Patientinnen und Patienten als Lösung propagiert. „Im Nachhinein würde ich sagen: Nein, wir hätten die Bonifizierung für die Krankenkassen fordern müssen. Sie sollten den Zuschuss für gesteuerte Patienten bekommen. Wir müssen die Rolle der Versicherungen mitdenken, die ja auch an der Versorgung der Patientinnen und Patienten interessiert sind.“ Dann, so vermutet er, hätte es vielleicht weniger Widerstände seitens der Krankenkassen gegeben.
Erforderlich sei ein klares Bekenntnis zur „Continued Care“, eine Arzt-Patienten-Bindung, die über Jahre oder sogar ein Leben lang hält – denn diese habe einen Mehrwert, wie Evaluationen zeigen – „Damit Symptome nicht gleich zu Krankheiten werden“. Und es brauche die Vernetzung mit der gebietsfachärztlichen Ebene, „da sind wir auf Bundesebene in Gesprächen“.
Aufbruchstimmung unter Hausärztinnen und Hausärzten
Auf die Frage, ob die Hausärztinnen und Hausärzte ein flächendeckendes Primärarztsystem überhaupt stemmen könnten, sagte Dr. Beier: „Wenn wir arbeiten wie immer, werden wir es nicht schaffen. Wir werden auch mit anpacken müssen und uns umstellen, ins Team gehen müssen“, erklärte er und verwies auf das Teampraxis-Konzept HÄPPI. „Wir sind für die Menschen da und nicht die Menschen für uns - dieses Bewusstsein müssen wir noch stärker in den Mittelpunkt stellen“, so sein Appell. Dann sei ihm auch nicht bange, dass man alle neuen Herausforderungen meistern werde. Am Bayerischen Hausärztetag und auch auf Frühjahrsdelegiertenversammlung des Hausärztinnen- und Hausärzteverbands in der Vorwoche in Köln sei eine Aufbruchstimmung zu spüren: „Es ist der Wunsch da, dieses Primärarztsystem in Deutschland gemeinsam mit der HZV zu gestalten, und das ist genau der richtige Weg“, so Dr. Beier.
„Jede Einzelpraxis kann HÄPPI werden“
„Wir müssen unsere Prozesse ändern“, stimmte Dr. Ritter zu. Der Überbegriff laute hier „HÄPPI“. „Das bedeutet aber nicht, dass die hausärztliche Versorgung jetzt nur noch in Primärversorgungszentren läuft“, stellte er klar. HÄPPI bedeute vielmehr eine Transformation auf Ebene der Einzelpraxis. „Jede Einzelpraxis kann HÄPPI werden“, so Dr. Ritter. „HÄPPI bedeutet einfach zwei Sachen: Teamarbeit und erweiterte Delegation“. Der Arzt müsse nicht jeden Patienten sehen. Vielmehr entscheide qualifiziertes Fachpersonal, in welche Versorgungsebene innerhalb der Teampraxis der Patient geleitet wird. „Diese umgestellten Praxisabläufe schaffen es, dass wir mit den bestehenden Ressourcen zu Rande kommen, mehr Patientinnen und Patienten versorgen können. Und das Schöne ist: Wir haben diese Diskussion bezüglich Substitution vom Tisch“, sagte Dr. Ritter mit Blick auf Modelle wie das einer Gemeindeschwester. „Das wollen wir nicht. Wir wollen den Facharztstandard erhalten im hausärztlichen Betreuteam“.
Deshalb sei er auch „total dankbar“ für die Förderung eines HÄPPI-Pilotprojekts in Bayern durch die Bayerische Staatsregierung. Einen entsprechenden Förder-Scheck hatte Bayerns Gesundheits, - Pflege- und -Präventionsministerin Judith Gerlach tags zuvor im Rahmen des Festabends zum Bayerischen Hausärztetag symbolisch überreicht.
„Ermutigt eure MFA und VERAH, als PCM in die Versorgung einzusteigen“
Eine wichtige Rolle im HÄPPI-Konzept spielt der Bachelor-Studiengangs „Primary Care Management“, kurz PCM. Die ersten Absolventinnen erhielten Mitte April ihre Abschluss-Zeugnisse – für Dr. Beier Anlass, an den langen Weg dorthin zu erinnern, der vor sechs Jahren mit einem „fast einstimmig“ angenommenen bayerischen Antrag in der Bundesdelegiertenversammlung des Hausärztinnen- und Hausärzteverbandes seinen Anfang nahm. Dass dieser erste Jahrgang von MFA mit akademischen Titel dastand, die „richtig Lust haben auf HÄPPI“, sei „einer der bewegendsten Momente“ seiner politischen Laufbahn gewesen. „Ermutigt eure MFA und VERAH, als PCM in die Versorgung einzusteigen“, riet er seinen Kolleginnen und Kollegen.
Veränderung bei Personalkosten mitdenken
Martina Stamm-Fibich mahnte an, auch die Vergütung der neuen akademischen Fachkräfte einzukalkulieren: „Wenn wir Teams mit teilweise akademisierten Fachkräften haben, teilweise mit dualer Berufsausbildung, dann muss sich in den Kosten der Praxen bei den Personalkosten einiges verändert. Das muss von Anfang an mitgedacht werden. Und da sehe ich im Augenblick noch nicht die Bereitschaft, darüber zu sprechen, aber das muss kommen. Denn ansonsten werden die Praxen zwar gute Möglichkeiten haben, aber sie einfach nicht finanzieren können“, warnte die SPD-Politikerin.
„Auf jeden Fall müssen wir jetzt liefern, auch in der Politik“, brachte Klaus Holetschek auf den Punkt, was allen in der Diskussionsrunde klar war. Es treibe die Menschen um, wenn sie keine zeitnahen Arzttermine bekommen können – eine Beobachtung aus dem zurückliegenden Wahlkampf, die Stamm-Fibich bestätigte. Der Wille zu einer erfolgreichen Gesundheitspolitik in der aktuellen Legislaturperiode sei schon in den Koalitionsverhandlungen spürbar gewesen, berichtete Holetschek, „weil es um viel größere Dinge geht. Ich glaube fest daran, dass diese ganzen Bereiche, die wir vertreten, Gesundheit, Pflege, dass die, wenn sie nicht gut gelöst werden, zur Radikalisierung der Menschen im Land beitragen“, sagte er.